
Interview mit Werner Meyer
Auch wenn ein Redakteur
schon Jahrzehnte im Beruf ist, muss er
sich täglich immer wieder neue und
vor allem gute Überschriften aus
den Fingern saugen. Werner Meyer ist "Autor
für besondere Aufgaben" bei
der Abendzeitung in München. Neben
seiner Lehrtätigkeit an der Deutschen
Journalistenschule macht er dort seit
vierzig Jahren Boulevard. Jörg Werner
Schmidt fragte ihn zu seiner Erfahrung
beim Gestalten von Überschriften
Herr Meyer,
was schreiben Sie lieber: Boulevard-Überschriften
oder Überschriften für Abonnement-Zeitungen?
Meyer: Da
gibt es keinen Unterschied mehr. Auch
bei den Abonnement-Zeitungen sind die
Überschriften munterer, frischer
und frecher geworden.
Was macht eine
gelungene Überschrift aus?
Meyer: Früher
war die Überschrift nur eine einfache
Aussage: Minister trifft in China ein.
Ein Flugzeug ist abgestürzt. Diese
Zeiten sind auch bei den Abonnementzeitungen
längst vorüber. Eine gelungene
Überschrift macht nicht nur eine
Inhaltsangabe. Schon 1949 hieß es
in einer Hausmitteilung des Spiegel, dass
die Überschrift ein Lasso sein soll,
das den Leser in die Geschichte hinein
zieht. Aber sie muss dem Text angemessen
sein. Dem Freitod der Gattin des früheren
Bundeskanzlers muss man mit einem anderen
Stil begegnen als einer anderen Meldung.
Aber auch bei todernsten Themen muss die
Überschrift im Inneren des Blattes
keine Sachaussage sein. Sie wird immer
versuchen, Fangschnur zu sein.
Bei der SZ versucht
man ja nicht, plakativ zu werden. Anders
die TAZ, die ganz gerne provoziert...
Meyer: Da
muss man die Ressortunterschiede beachten.
Wenn Sie bei der SZ die Seite eins anschauen,
dann macht man dort Nachrichten-Überschriften,
wie früher auch. Aber im Inneren
des Blattes denken die nicht daran, sich
an die Regeln zu halten. Dort werden Lassos
verfasst.
Also schmilzt
der Unterschied zwischen Boulevard und
Abonnement-Zeitungen?
Meyer: Ja.
Und die Boulevard-Zeitungen leiden darunter.
Die Abonnement-Zeitungen nehmen ihnen
mehr und mehr die Themen und die Behandlung
der Themen weg. Bei den Nachrichtenseiten
können sie es nicht. Aber selbst
da gibt es einen Dreh. Sie sagen dann
nicht: "Mao Tse Tung ist tot",
sondern: "Was wird jetzt aus der
Viererbande?" Denn die Nachricht
ist in der Regel schon aus dem Rundfunk
bekannt. Stern, Spiegel, Woche, TAZ bauen
ihre Überschriften anders auf, als
man es immer noch lehrt. Man verwendet
Fangwörter, die manchmal sogar keinen
Sinn ergeben. Das kann dann sogar in der
SZ so weit gehen, wie ich es selber nicht
wagen würde. Sie brachte einmal die
Überschrift: "Uuuäää".
Und die TAZ schrieb beim Atombombenversuch
in China: "Li machte Peng".
Gestern war
eine Meldung in der Tagesschau um drei:
"US-Soldaten machen Jagd auf Bin
Laden". Heute macht die SZ auf mit
der Schlagzeile: "US-Soldaten machen
Jagd auf Bin Laden". Was sagen Sie
dazu?
Meyer: Die
Tendenz geht dahin, dass man die Nachricht
schon als bekannt voraussetzt und in der
Überschrift dann darüber hinaus
geht. Das Flugzeugunglück kennen
die Leute aus dem Fernsehen. Wir gehen
einen Schritt weiter. Statt "Flugzeug
abgstürzt" sagen wir: "Flugsicherung
muss jetzt umgestellt werden".
Was ist der
schlimmste Fehler in einer Überschrift?
Meyer: Ein
Fehler ist es, den Leser zu langweilen.
Aber der schlimmste Fehler ist, wenn sich
der Leser auf den Arm genommen fühlt.
Das passiert, wenn die Überschrift
nicht dem Inhalt entspricht, oder wenn
sie den Leser bewusst in die Irre führt.
Da steht dann: "Bürgermeister
verhaftet." Sie denken, es ist der
Bürgermeister Ihrer Stadt und lesen
gleich weiter. Und dann stellt sich heraus,
es war irgendwo in der Oberpfalz. Da reagiert
der Leser ärgerlich.
Entscheiden
Sie alleine, welche Überschrift über
Ihre Artikel gedruckt wird?
Meyer: Bei
uns entscheidet der Redakteur, der mit
der Seite beauftragt ist. Er spricht sich
natürlich mit den Kollegen ab, um
Doppelüberschriften zu vermeiden.
Der Zeitungsgestalter Mario Garcia hat
es so formuliert:"Die Zukunft gehört
dem
Zusammenspiel von writing, editing und
design, WED." Ich muss zum Beispiel
verhindern, dass sich die Überschriften
auf verschiedenen Seiten beißen.
Zusammenarbeit ist enorm wichtig. Der
Redakteur und die Kollegen sollten immer
einbezogen werden. Es ist schlecht, wenn
die Überschrift dasselbe sagt, wie
der Vorspann, der Text und die Bildunterschrift.
Dann wird´s langweilig. Dann gibt
es die berühmten Lesequoten: neunzig
Prozent lesen die Überschrift, achtzig
Prozent den Vorspann und nur fünfzehn
Prozent lesen dann den Text.
Bei der Abendzeitung
spielen die Überschriften auch für
den Verkauf eine herausragende Rolle.
Wäre da nicht eine eigene Überschriftenredaktion
sinnvoll?
Meyer: Nein!
Da hilft nur Zusammenarbeit. Layoutredakteure
und Überschriftenredakteure habe
ich schon vor Jahrzehnten erlebt. Die
kennen den Inhalt nicht, wissen nicht
worauf es ankommt, wissen die Pointe nicht.
Die wissen vielleicht nicht mal, was gestern
war, weil sie da dienstfrei hatten.
Der Grafiker kann mit der Gestaltung anfangen
und gibt die Form vor. Der Redakteur hat
vielleicht den witzigsten Einfall. Aber
ich als Reporter muss den Schwerpunkt
setzen, sonst kommt ganz etwas Anderes
dabei heraus. Die Zukunft guter Zeitungsarbeit
hängt von Zusammenarbeit ab: Reporter,
Layouter, Redakteur.
Wie kann sich
die Zeitung durch ihre Überschrift
gegenüber Internet und Rundfunk behaupten?
Meyer: Die
Überschrift soll den Leser durchaus
veranlassen, im Internet nachzuschauen.
Wir geben auch oft eine Adresse an, wo
er sich weiter informieren kann. Das Internet
ist keine Konkurrenz. Früher gab
es die Aktualität der Wörter.
Jetzt bringt das Fernsehen jedes Wort
der Politiker. Es gab die Aktualität
der Ereignisse. Heute berichtet das Fernsehen
live. Die Zeitung hat aber die Aktualität
der Hintergründe. Wir müssen
dem Leser in der Überschrift erzählen,
was die Ereignisse für ihn bedeuten.
Der Leser muss durch ein Lasso
in der Überschrift das Gefühl
bekommen: "Hier gibt es noch eine
andere Perspektive."
Was sind für
Sie als Zeitungsleser diese Lassos?
Meyer: Das
sind Stichworte, die ich im Moment suche
und die mir Hintergründe
versprechen. Das kann eine witzige Formulierung
sein. Wenn ich im Lokalteil lese: "Die
Gärtner sind nicht auf Rosen gebettet",
dann lese ich einen Artikel über
die Arbeitssituation der Gärtner,
obwohl es nicht mein Interessensgebiet
ist.
Muss man auch
im Nachrichtenteil kommentieren, um witzige
Überschriften zu bekommen?
Meyer: Man
tut es, aber man muss es nicht. Meine
Generation hat eine Abneigung gegen das
Kommentieren. Henri Nannen sagte dazu:
"Wider die journalistische Klugscheißerei".
Ich muss dem Leser nicht unbedingt von
vorneherein sagen, was er denken muss.
Wenn ich gut bin, hat er die Meinung dann,
wenn er zu Ende gelesen hat. Ich kann
auch mit der Warum-Überschrift neugierig
machen, wenn ich zum Beispiel schreibe:
"Warum die englische Königin
so seltsame Ohrringe trägt".
Nachrichten sollten
also objektive Überschriften haben?
Meyer: Es
gibt zwar keine Objektivität, aber
ich muss es wenigstens versuchen.
Die reine Inhaltsangabe bei der Überschrift
ist passee. Das konnte sich das Neue Deutschland
früher erlauben: "XXV. Parteitag
des Zentralkommitees", weil einige
Leute das wohl lesen mussten. Wir aber
müssen anschreien gegen tausend andere.
Wie man das dann gestaltet, hängt
von der Zeitung ab. Dieter Hildebrandt
hat einmal gesagt: "Bei der Bild-Zeitung
'schrillt' das Telefon, bei der Abendzeitung
'bimmelt' es und bei der Süddeutschen
'läutet' es.
Ist es einfacher,
Boulevard-Überschriften zu machen?
Meyer: Ein
Unterschied ist geblieben: Die Abendzeitung
hat weniger Buchstaben zur Verfügung.
Das macht das Gestalten der Überschrift
schwieriger.
Wenn ich dem Leser zu viel erzähle,
springt er ab. Wenn ich zu stark verkürze,
kann es zu allgemein werden. Das Boulevardblatt
muss den Leser täglich neu über
die Überschrift gewinnen. Die Süddeutsche
kommt ins Haus.
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Thema Überschrift: Das Buch
Die
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und Detlef Esslinger beantwortet auch
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